Psychische Erkrankung und Gefährdung anderer
Berichterstattung über Gewalttaten
Ein Gedankenexperiment: Bitte lesen Sie folgende Aussagen und lassen Sie sie kurz auf sich wirken:
Max tötet Susi – Max ist Schulabbrecher.
Max tötet Susi – Max ist Soldat.
Max tötet Susi – Max hat eine psychische Erkrankung.
Was haben alle diese Aussagen gemeinsam?
Sie verknüpfen Merkmale von Max mit dem Gewaltakt, der Tötung von Susi. Sie stellen dabei keine direkte Verbindung im Sinne einer ursächlichen Zuschreibung her, suggerieren aber einen Zusammenhang durch das direkte Nebeneinanderstellen des Merkmals und des Delikts. Damit verleiten sie zur Annahme, dass es einen ursächlichen Zusammenhang zwischen Merkmal und Gewalttat gibt, der aber in Wirklichkeit nicht vorhanden ist.
Wie unterscheiden sich die Aussagen?
Bei den ersten beiden Aussagen würde uns die Verknüpfung der Tat mit dem Merkmal von Max seltsam oder überraschend erscheinen. Nur im dritten Fall sind wir fast schon gewohnt, einen solchen Zusammenhang zu lesen, handelt es sich doch um ein sehr häufig auftretendes Merkmal in der Berichterstattung über Gewaltakte: „Der Täter hatte Schizophrenie“, „Die Täterin war depressiv“ oder „Er nahm Antidepressiva“. Dahinter stecken die unreflektierten Vorurteile, die unser Denken und Handeln weitaus mehr, als uns bewusst ist, bestimmen.
Die ständige Wiederholung eines bestimmten Merkmals im Zusammenhang mit einer Gewalttat generiert die Annahme, dass das Merkmal die Ursache für die Gewalttat sein könnte. Dies gilt insbesondere für das dritte Beispiel (psychische Erkrankung), deutlich weniger für die beiden ersten, weil wir vom Zusammenhang zwischen Schulabbruch und Tötungsdelikten oder aber von Tötungen im Rahmen von kriegerischen Auseinandersetzungen (Soldat) deutlich weniger oft in den Medien lesen oder hören als von Gewalttaten durch Menschen mit einer psychischen Erkrankung.
Wenn häufig wiederkehrend über psychische Erkrankung im Kontext von Kriminalität und Gewalt berichtet wird, sind die negativen Auswirkungen dieser Stigmatisierung für alle direkt und indirekt Betroffenen (Erkrankte und ihre Familien) enorm belastend.
Es ist verständlich, dass in Medienbeiträgen Erklärungen für Gewalttaten gesucht werden. Menschliche Handlungen sind jedoch höchst individuelle und komplexe Phänomene, die auf eine Reihe von Einflüssen und Beweggründe zurückzuführen sind und nicht durch ein einzelnes Merkmal einer Person erklärt werden können. Versuche, Taten mit einem ebenfalls sehr komplexen und individuellen Geschehen einer Erkrankung zu erklären, insbesondere flüchtige Andeutungen in Medienbeiträgen, sind irreführend, da sie in Wirklichkeit gar keine Erklärungskraft haben und verstärken bloß das Stigma psychischer Erkrankungen.
Durch verkürzte Darstellungen von Gewalt und psychischer Erkrankung besteht die große Gefahr, den Eindruck zu erwecken, dass Menschen mit psychischen Erkrankungen per se gewalttätig seien. Das ist – ebenso wie die Aussage, dass jemand ein Mörder ist, weil er ein Schulabbrecher oder Soldat ist – schlichtweg falsch. Die pauschale Erklärung einer Handlung durch eine Erkrankung ist daher unbedingt zu vermeiden.
Umgang mit Daten bzw. Statistiken zum Thema Gewalt
Die Ergebnisse internationaler wissenschaftlicher Studien machen deutlich, dass die absolute Häufigkeit von gewaltassoziierten Straftaten bei Menschen mit psychischen Erkrankungen sehr gering ist (vgl. Schomerus & Finzen, 2016; Stuart, 2003).
Wie schon im vorangegangenen Kapitel hervorgehoben, sind Handlungen, darunter auch Gewalthandlungen, höchst individuelle und komplexe Phänomene, die nicht auf einzelne ursächliche Faktoren zurückzuführen sind. Nach derzeitigem Wissensstand sind sehr allgemeine Personencharakteristika wie Alter, Geschlecht und sozioökonomischem Status die stärksten Einflussfaktoren für die Wahrscheinlichkeit, ein Gewaltdelikt zu begehen.
Wer nach entsprechenden Studienergebnissen zu Gewalt und psychische Erkrankungen sucht, wird aufgrund der Komplexität des Themas auf eine Reihe von unterschiedlichen Ergebnissen stoßen, die immer im Kontext der verwendeten Definition von Gewalt, der berücksichtigten Einflussfaktoren, Auswahl der Personengruppen, Relativität der Aussage und Persepktive (z.B. kann ein ‚erhöhtes‘ Risiko in absoluten Zahlen dennoch ein ‚sehr kleines‘ Risiko bedeuten) zu betrachten sind. Für eine nähere Beschäftigung mit dem komplexen Thema Gewalt und psychische Erkrankung siehe z.B. Stuart (2003) [11], Schomerus und Finzen (2016) [12] .
Wichtiger für die Gefahreneinschätzung im Alltag ist daher nicht die Stigma-bedingte Konzentration auf eine aus dem wissenschaftlichen Diskurs gerissene magische Zahl, sondern die Tatsachen,
- dass 1. die überwiegende Mehrheit der Gewaltdelikte NICHT von Menschen mit psychischen Erkrankungen begangen werden
- und vor allem dass 2. das Gros der Menschen mit psychischen Erkrankungen keinerlei Gewaltdelikte begeht.
Darüber hinaus sind Menschen mit psychischen Erkrankungen selber häufiger Opfer von Gewalt, was nicht zuletzt ebenfalls eine der weitreichenden Folgen von Stigma darstellt und einen dringenden Handlungsbedarf im Bereich des Gewaltschutzes und der Gewaltprävention anzeigt.
Obwohl Gewalttaten, die von psychisch erkrankten Menschen begangen werden, seltene Ereignisse sind, steht dennoch in einem auffälligem Kontrast dazu die Erfahrung, dass psychische Erkrankungen in Medien überproportional oft im Kontext von Gewalt erwähnt werden – sei es im Chronik-Ressort, in Gerichtsreportagen oder in Unterhaltungsmedien.
Eine Studie der MedUni Wien belegte eine deutliche Überzeichnung von Gewalttaten in Filmen [13]. Eine Inhaltsanalyse der umfassenden ‚Internet-Movie-Database zeigte, dass ein Viertel bis ein Drittel der Filme, die das Thema Schizophrenie beinhalten, von an Schizophrenie erkrankten Mördern handeln. Dies bedeutet im Vergleich zu den realen Zahlen in der österreichischen Bevölkerung einen Verzerrungsfaktor um das 200-Fache.
Wenn Gewaltdelikte mit psychischen Erkrankungen in Verbindung gebracht oder gar durch diese erklärt werden, entsteht schnell der Eindruck, dass psychisch Erkrankte gefährlich, aggressiv und gewalttätig wären. Das ist definitiv falsch.
Ebenso problematisch ist der Hinweis, dass ein straffällig gewordener Mensch in psychiatrischer Behandlung ist oder war. Dadurch wird nicht nur die Erkrankung, sondern auch die Therapie in ein schlechtes Licht gerückt und stigmatisiert. Ein solcher Hinweis wirft die Frage auf, warum die Person „trotzdem“ eine Gewalttat ausgeführt hat. Daher ist es wichtig, die Relevanz dieser Information für den Bericht genau zu prüfen.
Auch Hinweise auf ‚frühere‘, z.B. in der Jugend oder gar Kindheit bestehende psychische Probleme eines Täters / einer Täterin können zu der falschen und stigmatisierenden Vorstellung führen, dass die Tat aufgrund der früheren Erkrankung begangen wurde. Dies ist genauso absurd wie es die Erwähnung einer früheren Kreislaufproblematik beim Verursacher eines Autounfalls wäre: Daraus würde man wohl nicht den Schluss ziehen, dass die Jahre zurückliegenden Kreislaufprobleme den aktuellen Unfall verursacht hätten.
Manchmal ist es schwierig, schnell an fundierte Informationen zu kommen, insbesondere wenn psychische Erkrankungen mit im Spiel sind. Psychische Erkrankungen und Gründe ihrer Entstehung sind sehr individuell und äußerst komplex (siehe dazu Entstehung psychischer Erkrankungen ). Daher werden seriöse Expertinnen und Experten gegenüber Medienvertretern/ Medienvertreterinnen keine Ferndiagnose stellen und unmittelbar nach einem Ereignis keine Erklärungen für das Verhalten einer ihnen unbekannten Person liefern.
Für die Berichterstattung zum Themenkreis psychische Erkrankungen ist also besondere Achtsamkeit und journalistische Sorgfalt notwendig. Insbesondere im Rahmen der tagesaktuellen Nachrichtenmeldungen, die meist unter sehr hohem Zeitdruck entstehen, sind die nachfolgenden Empfehlungen essenziell.
Empfehlungen:
- Berichten Sie im Kontext eines Gewaltdeliktes nur dann über eine psychische Erkrankung, wenn diese tatsächlich direkt relevant für Ihren Bericht ist und der Zusammenhang zweifelsfrei vorliegt.
- Wägen Sie dabei zwischen dem Interesse des medialen Informationsbedarfs der Öffentlichkeit, den Effekten auf Menschen und Leser*innen mit psychischen Erkrankungen und dem Interesse der Betroffenen (Erkrankte und Angehörige) ab.
- Vermeiden Sie unbedingt die pauschale Erklärung einer Handlung durch eine Erkrankung. Das gilt insbesondere für Berichte über Gewalttaten.
- Lassen Sie Expertinnen/Experten zu Wort kommen und betrachten Sie etwaige „Ferndiagnosen“ stets kritisch.
Medienschaffende können einen essenziellen Beitrag zur Entstigmatisierung und Inklusion von Personen mit psychischen Erkrankungen leisten, wenn sie künftig davon absehen, psychische Erkrankungen als Erklärungsansatz für Straftaten heranzuziehen.
Ebenso können Medienberichte einen äußerst relevanten Beitrag zu einer adäquaten Aufklärung der Bevölkerung leisten und ein Gegengewicht zu gesellschaftlichen Stigmatisierungstendenzen bilden, wenn bei einer sich bietenden Gelegenheit auch über Umgangs- und Bewältigungsformen psychischer Erkrankung, sowie Prävention, berichtet wird.
[11] Stuart, H. (2003). „Violence and mental illness: an overview.“ World Psychiatry 2(2): 121-124.
[12] Schomerus, G. and A. Finzen (2016). „Probleme und Implikationen der Einschätzung des Gewaltrisikos von psychisch kranken Menschen.“ Psychiatr Prax 43(7): 355-356.
[13] Wiener Schriftenreihe für Forensische Psychiatrie, Prof. Thomas Stompe ‚Der psychisch kranke Täter in Film und Massenmedien‘ https://www.jpc.de/jpcng/books/detail/-/art/der-psychisch-kranke-taeter-in-film-und-massenmedien/hnum/9003407