Stigma – die zweite Krankheit

So entsteht Stigma

Stigma ist ein Merkmal, ein Zustand oder ein Etikett, das mit kulturell erzeugten negativen Zuschreibungen behaftet ist. Diese negativen Zuschreibungen führen dazu, dass Merkmalsträger allein aufgrund dieses Merkmals als minderwertig betrachtet, unter Druck gesetzt, in ihrer Identität beschädigt, diskriminiert oder gar aus einer Gesellschaft ausgeschlossen werden.

Viele Menschen wissen wenig über psychische Erkrankungen, ihre Vorstellungen sind von kulturell generierten negativen Stereotypen und Vorurteilen geprägt. Wenn sie nun hören, dass jemand „psychisch krank“ ist, werden diese generellen, meist inadäquaten Zuschreibungen aktiviert.
Stigma entsteht aus dem gleichzeitigen Auftreten mehrerer Komponenten [2] , nämlich:

  1. Labeling: Feststellung eines Unterschiedes und Vergabe eines Labels (z.B. „psychisch krank“)
  2. Stereotypisierung: Verknüpfung des Unterschieds mit negativen Stereotypen (z.B. unberechenbar, unheilbar)
  3. Separation: Erhöhung der sozialen Distanz – Unterscheidung in „WIR“ und „DIE“
  4. Statusverlust, Diskriminierung der stigmatisierten Person (= Konsequenz aus den Punkten 1-3)

Stigmatisierung liegt dann vor, wenn Elemente des Labelings, der Stereotypisierung, der Separation, des Statusverlustes und der Diskriminierung gleichzeitig auftreten – und zwar in einer Machtsituation, in der sich die Komponenten des Stigmas entfalten können [3].

Stigma entsteht also aus der Abgrenzung psychisch gesunder Menschen von jenen mit psychischer Erkrankung („WIR“ und „DIE“). Diesen „Andersartigen“ wird ein Set von negativen Eigenschaften und Stereotype zugeschrieben. Die individuelle Person und Situation der/des psychisch Erkrankten wird nicht gesehen.

Diesen Mechanismus der verallgemeinernden Zuschreibung und die auf Basis der Vorurteile legitimierten diskreditierenden Handlungen gegenüber Menschen mit psychischen Erkrankungen nennt man Stigmatisierung. Voraussetzung für den Stigma-Prozess ist allerdings die Macht, negative Konsequenzen auch durchzusetzen.

Man unterscheidet vier Ebenen der Stigmatisierung  [4]

  • Direkte oder personale Stigmatisierung: sie erfolgt im persönlichen Kontakt durch verbale Herabsetzungen oder Ausgrenzung.
  • Strukturelle Stigmatisierung: institutionalisierte Formen von Ungleichbehandlung, Benachteiligung oder Diskriminierung (z.B.: in gesetzlichen Bestimmungen, Mängel in der psychiatrischen Versorgung)
  • Kulturelle Stigmatisierung: diese erfolgt oft sprachlich durch missbräuchliche Verwendung von Krankheitsnamen oder Zuordnung von negativen Merkmalen zu einer Personengruppe. In Medien werden Menschen mit psychischen Erkrankungen z.B. häufig als gewalttätig und gefährlich dargestellt, wenn als Erklärung besonders schrecklicher und scheinbar unmotivierter Verbrechen das Vorliegen einer psychischen Erkrankung herangezogen wird. Derartige Berichte verstärken Vorurteile, schüren Ängste in der Bevölkerung und führen so zur Ablehnung psychisch erkrankter Menschen.
  • Selbst-Stigmatisierung: wenn erkrankte Menschen die Vorurteile bzgl. psychisch Erkrankter akzeptieren, sie verinnerlichen und gegen sich selbst richten. Dieser Prozess der Internalisierung negativer Stereotype verringert das Selbstwertgefühl und das Gefühl der Selbstwirksamkeit. Um sich der Diskriminierung zu entziehen, verleugnen manche Betroffene ihre Erkrankung oder ziehen sich zurück.
    Dies führt nicht nur zu sozialer Isolation, sondern hemmt den Mut zur Verwirklichung von Lebensziele und behindert vor allem die Behandlung und Genesung.

Folgen von Stigma

Für Menschen mit psychischer Erkrankung ist das Stigma eine große zusätzliche Belastung und birgt die Gefahr vielfältiger negativer Konsequenzen:

  • Kränkungen und Verlust von Selbstvertrauen durch Herabwürdigungen
  • Einbußen an Lebensqualität durch gesellschaftliche Isolation
  • Existenzielle Bedrohung durch Ausgrenzung aus dem Berufsleben
  • Gefährdung der Heilungschancen, da das Stigma Betroffene einerseits aus Scham davon abhält, frühzeitig Hilfe zu suchen, andererseits verursachen Stigmatisierungserfahrungen zusätzlichen Stress, der sich negativ auf den Genesungsprozess auswirken kann.

Das Stigma wird daher in Fachkreisen auch als „zweite Krankheit“ bezeichnet, die für die Betroffenen ähnlich gravierende Folgen haben kann wie die psychische Erkrankung selbst. Die Angst vor Stigmatisierung kann Erkrankte daran hindern, sich der eigenen psychischen Probleme bewusst zu werden bzw. sich aktiv damit auseinanderzusetzen und Hilfe zu suchen.

„Die Lebensgestaltung und Lebensqualität von Betroffen wird nicht nur durch Art und Schweregrad der Erkrankung, sondern ganz maßgeblich
auch durch den Umgang des sozialen Umfeldes mit dieser beeinflusst.“

Für eine stigmafreie Berichterstattung sollten Sie bitte folgende Aspekte berücksichtigen:

  • Der Kontext, in dem über psychische Erkrankungen berichtet wird, soll weder sprachlich noch in der Auswahl der Bilder Klischees transportieren, sondern sachlich dargestellt werden.
  • Achtsame Formulierungen/Wortwahl
  • Integrieren von Perspektiven und Stellungnahmen von Menschen mit psychischen Erkrankungen
  • Aufzeigen von Anlaufstellen, an die sich Betroffene im Bedarfsfall wenden können

[2] Link, B.G.; Phelan, J. C., 2001: Conceptualising Stigma. Annual Review of Sociology, 2001, vol. 27, 363–385[3]  Link, B.G.; Phelan, J. C., 2001: Conceptualising Stigma. Annual Review of Sociology, 2001, vol. 27, 367[4] Ullrich Meise in Bestandserhebung Anti-Stigma Aktivitäten in Österreich, Teil 1, Seite 5-6; https://jasmin.goeg.at/1505/1/Bestandserhebung_Anti-Stigma-Aktivit%C3%A4ten%20in%20%C3%96sterreich%202019_Teil%201_bf.pdf)